Bis heute finden sich auf einer einzigen Straße der historischen Altstadt dicht an dicht die berühmtesten Orte der Reformation, die hier ihren Ausgang nahm und die Welt des 16. Jahrhunderts aus den Angeln hob.
Luthers Weib Katharina von Bora eilt geschäftig über den kopfsteingepflasterten Innenhof des Schwarzen Klosters, in der Hand einen Korb Gemüse. Ihr folgt aufmerksam eine Gruppe Schweizer Touristen, von denen nicht wenige mit Bergstiefeln und khakifarbenen Safarihüten wohl auf eine längere Tour eingerichtet sind. Zwei Stunden werden Nicole Dalichow, die bekannteste Wittenberger Expertin für szenische Stadtführungen, und ihre vielen Statisten sie im historischen Gewand durch die Renaissance-Stadt an der Elbe begleiten. Steigung: null. Strecke: 930 Meter die Straße rauf. Erste Station ist das eindrucksvolle Haus der Luthers – ein Geschenk des Kürfürsten Friedrich des Weisen zur Hochzeit des Mönches mit der entflohenen Nonne Katharina.
„Mit uns ging es gar nicht schön los“, moniert Katharina, die zusammen mit elf anderen Nonnen in Heringsfässer gestopft mit Hilfe eines Torgauer Kaufmanns des nächtens heimlich aus ihrem Kloster entkommen und in Wittenberg gelandet war. „Man roch sie schon lange, bevor man sie sah“, erzählten sich die Wittenberger damals. Es war Luther, der fand, die Nonnen müssten schnellstmöglich verheiratet werden, um sie vor Repressalien zu schützen. Katharina aber wollte den ihr zugedachten alten Professor nicht. „Nun, wenn mich der Herr Luther persönlich fragen würde, dann würde ich ja auch nicht nein sagen“, sagte sie schlau. „Ich heirate sie aber nicht aus Liebe“, tönte Luther, ließ aber schon wenig später verlauten, er wolle seine Käthe weder gegen Frankreich noch gegen Venedig tauschen. Von 1502 bis 1546 lebten die Luthers, ihre sechs Kinder und viele Studenten der Universität im Lutherhaus. Hier hatte Katharina das Sagen und war eine der ersten wirklich erfolgreichen weiblichen Landwirtinnen ihrer Zeit. Sie versuchte, alles Essen für die vielköpfige Schar selbst anzubauen, betrieb Landgüter mit Viehzucht und Ackerbau und hielt die Finanzen zusammen. Ihr Heim ist heute das größte reformationsgeschichtliche Museum der Welt. Luthers Wohnzimmer, die Lutherstube, ist im Original erhalten. Hier entstanden Luthers berühmteste Werke und hier hörten seine Studenten aus aller Welt die legendären Tischreden. Luthers Predigtkanzel, seine Mönchskutte, Bibelübersetzungen und viele wertvolle Handschriften und Drucke sind im Lutherhaus ausgestellt.
Nur wenige Meter weiter liegt das schmale Haus des bedeutenden Reformators und Freundes Luthers, Phillip Melanchthon, der 1518 vom humanistenfreundlichen Kurfürsten ebenfalls als Professor an die Wittenberger Universität Leucorea berufen wurde. Er gab den entscheidenden Anreiz zur Bibelübersetzung Luthers. Schlammbespritzt, dürr und mitgenommen kam Melanchthon nach einem vierwöchigen Ritt in Wittenberg an. Katharina und die anderen Wittenberger betrachteten den nur 1,52 Meter großen und wirklich nicht sehr schönen Mann zunächst mit Skepsis. Als er drei Tage später seine Antrittsrede in der 800 Meter entfernten Schlosskirche hielt, lagen sie ihm aber schnell zu Füßen. „Ich brauche nur genügend Kerzen, meine Bücher und die Universität“, soll Melanchthon gesagt haben. Der 14 Jahre ältere Luther jedoch sah ihn gern verheiratet und stellte ihm die Wittenbergerin Katharina Krapp vor. Keine Gemälde, keine Aufzeichnungen gibt es über die Arme, die gerade kopfschüttelnd aus der Gasse tritt. Nur mit einem einzigen Satz in dem viele Tausend Seiten fassenden Werk Melanchthons ist sie erwähnt, in einem Brief an einen Freund. „Sie stört nicht“, heißt es da. „Ein paar Mal hab ich doch gestört, wir haben immerhin vier Kinder“, ruft die Gekränkte.
Nur ein paar Kopfsteinpflastersteine weiter die Collegienstraße hinauf schlüpft die Schweizer Gruppe durch einen Torbogen auf den Hof der Leucorea, so wie einst Luther, der nur wenige Minuten zu Fuß von Käthe zur Vorlesung brauchte. Die 1502 gegründete Wittenberger Universität ist die älteste Hochschule in Sachsen-Anhalt und war einst das geistige Zentrum der Reformation. Viele steinerne Tafeln an den Außenwänden verraten, welche Berühmtheiten hier neben Luther und Melanchthon noch lehrten und lernten. Dort, wo die Collegienstraße zur Schlossstraße wird, stehen die Bürgerhäuser des Malers Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553) rund um einen historischen Innenhof. Fast alle berühmten Cranach- Gemälde sind in diesen Werkstätten entstanden. Der Meister gilt als einer der bedeutendsten Maler der Renaissance. Und als einer der geschäftstüchtigsten. Lutherportraits ließ Cranach gerne auch von seinen Gesellen per Lochschablone malen. Rund 2.000 Stück soll es gegeben haben. Durch den Kauf eines Hauses erhielt Cranach das Wittenberger Apothekenprivileg. Auch Schankprivilegien und andere einträgliche Rechte sicherte er sich und war bald der reichste Bürger - von 1537 bis 1544 gar Bürgermeister - der Stadt.
In der kleinen Druckerstube seiner Höfe wurden 1512 die 2.000 Exemplare der sogenannten Septemberbibel gedruckt. Sie enthielt das Neue Testament, von Luther in nur elf Wochen aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt, von Melanchthon bearbeitet und von Cranach teils illustriert. Diese Bibel und später auch die Gesamtausgabe der Bibel, die 1534 erschien, fand in den evangelischen Gebieten reißenden Absatz. Erstmals konnten die Menschen selbst lesen und verstehen, was da im Neuen Testament angeblich geschrieben stand, und wer es nicht konnte, lernte mit dieser Bibel lesen. Da sich kaum jemand aber eine ganze Bibel leisten konnte, machte Cranach auch daraus ein Geschäft. Er druckte einzelne Seiten und tauschte sie ein - etwa gegen eine Handvoll Eier. Heute beherbergen die Cranach-Höfe neben Ausstellungen und Fremdenzimmern auch eine Malschule und Ateliers, in denen Kinder das Drucken probieren können. Schräg gegenüber des Cranach-Hauses, am Markt, liegt das Rathaus, dessen rechte Seite einst ein mittelalterliches Kaufhaus beherbergte. Rechterhand davon gelangt man zur Stadtkirche St. Marien, der Predigtkirche Luthers, in der er über 2.000 Mal von der Kanzel gesprochen haben soll. Zwei Stunden konnte so eine Lutherrede schon mal dauern. Rings um den Kirchplatz wohnte weitere Wittenberger Prominenz, zum Beispiel Paul Gerhardt, der berühmteste deutsche Kirchenliederdichter. Selbst Johann Faust – die lebende Vorlage für alle Faustgeschichten – soll von 1525 bis 1532 Wittenberger gewesen sein. Unter dem historischen Pflaster vor der Kirche liegt ein alter Friedhof, den die Wittenberger eine Zeit lang pragmatisch als Handelsplatz und Wirtshaus nutzten. Auf einem Gottesacker durften keine Steuern eingetrieben werden, weshalb sie ihre Schweine zwischen den Gräbern zum Kauf feilboten und sogar ihre Partys hierher verlegten.
Luther selbst, der in Mönchskutte gerade lebensgroß auf einem schicken Segway-Roller des Wittenberger Verleihunternehmens Akkumobil mit den Kirchenschlüsseln herangeschwebt kommt, hat für derlei Geschichten ein mildes Lächeln übrig. Bernhard Naumann ist der Luther schlechthin und sein bei Touristen begehrtes Gefährt nur eine von vielen Möglichkeiten, zu den Wittenberger Welterbestätten zu gelangen: Zu Fuß geht es beispielsweise auf dem Lutherweg von Eisleben nach Wittenberg – mitten durch eine wahre Welterberegion, am Wegesrand das Bauhaus in Dessau und das 142 Quadratkilometer große Gartenreich Dessau-Wörlitz des aufgeklärten Fürsten Friedrich Franz von Anhalt- Dessau. Für Radler kreuzen mit dem Elberadweg, dem Europaradweg R1 und dem R4 drei Fernradwege den Schlossplatz direkt vor die Thesentür. Selbst paddelnd kann man Wittenberg erreichen, auf den Wassern des UNESCO-geschützten Biosphärenreservats Mittelelbe, an dessen Ufern die drei anderen Welterbestätten liegen. Bernhard Naumann nimmt man den Luther selbst auf seinem futuristischen Gefährt ab, auf dem er unterwegs luthersche Weltsichten mit jedem austauscht, der meint, hier nur einen Darsteller zu treffen. Der hochbelesene Mann ist Kirchmeister der Stadtkirche St. Marien und damit sozusagen vom Fach. Das ist es, was viele Wittenberger heute auszeichnet, die sich um die Touristen in ihrer Stadt bemühen.
Auch Stephan Schelhaas, Leiter der Wittenberg-Information gleich gegenüber der berühmtesten Wittenberger Sehenswürdigkeit, der Schlosskirche mit ihrer Thesentür, ist so einer. Wenn er in seinem Infobüro von der Zukunft seiner Stadt und der Lutherdekade bis 2017 redet, gibt es vor lauter Ideen kaum Luft für Zwischenfragen. Seit 1933 sei Wittenberg schon Lutherstadt erzählt er, doch zu DDR-Zeiten war das „gefühlt ganz anders“. „Ich kannte nur drei Daten zu Luther: geboren, Thesenanschlag, gestorben“, sagt Schelhaas. 1976 bekam Wittenberg statt „Lutherstadt“ den Namenszusatz „Chemiestadt“. Am Elbufer wurden unter anderen Ruß und Düngemittel hergestellt. Außerdem fast alle Gummistiefel der DDRBürger, auch die von Stephan Schelhaas. Heute schickt er lieber Touristen zu den 17 Audioguide-Stationen, an denen jeder, der die szenischen Stadtführungen vielleicht verpasst hat, mit einem Handyanruf jetzt auch 24 Stunden täglich alles über die Wittenberger Weltgeschichte erfahren kann. Eine reformatorische Idee.
Weitere Infos unter http://www.wittenberg.de