Es ist Winter. Ganz Sylt ist von eisiger Brandung umgeben. Niemand, der bei diesen Temperaturen auch nur einen Zeh ins Meer tauchen möchte. Niemand? Doch. Einige unbeugsame Ganzjahresschwimmer hören nicht auf, Kälte und Wind Widerstand zu leisten. Und alleine das Zugucken ist nicht leicht für die vorbeispazierenden Passanten, die selbst aus sicherer Entfernung eine Gänsehaut bekommen.
Wer in den kommenden Monaten noch ans Baden denkt, hat vermutlich die heimische Badewanne im Sinn oder die „Sylter Welle“, das wohltemperierte Freizeitbad in den Dünen von Westerland: ein Rauf und Runter im Wellenbad, Entspannung im Sprudel- oder Massagebecken mit ungehindertem Blick auf den fast menschenleeren Strand und die tosenden Wellen.
Etwas weiter südlich, am Strandabschnitt „Oase zur Sonne“, sind tagtäglich zumindest zwei Menschen zu sehen. Denn für Karen und Ludolf Jensen ist der Winter noch lange kein Grund, auf ihr tägliches Bad zu verzichten. Seit zwölf Jahren schwimmen die beiden 74-Jährigen an jedem Tag im Meer - und bei jedem Wetter. Und sie verzichten dabei nicht einmal auf eine Massage. „Wellen sind die besten Masseure, die es gibt“, sagt Karen Jensen, „erst recht bei starker Brandung und wenn das Wasser nur ein Grad kalt ist.“ Die Dauer des Badeganges variiert dabei je nach Temperatur. Bei zehn Grad Wassertemperatur könne man es eine gute halbe Stunde aushalten. Bei etwa einem Grad geht es dagegen schon nach wenigen Minuten zurück an den Strand. „Wir schauen aber nicht auf die Uhr. Das spürt jeder für sich, wann es genug ist.“
Ob Wind oder Regen und Schnee - die beiden Archsumer setzen sich morgens ins Auto und fahren hinüber an den Strandabschnitt südlich von Westerland. Ab Herbst, wenn die Strandkörbe die Westküste verlassen und ihr Winterdomizil bezogen haben, müssen die Jensens ihre dicken Wollpullover und langen Unterhosen gut in Regenjacken verstauen und mit Steinen beschweren, damit sie nicht nass werden oder davonfliegen. Das ist aber auch schon der einzige Unterschied zum Sommer. Im Laufe des Jahres sinkt allmählich sowohl die Temperatur als auch die Zahl der Mitbadenden. Doch für die Jensens spielt das Wetter keine Rolle. „Wir waren auch im Dezember 1999 im Wasser“, erinnert sich Karen Jensen. Damals wütete der Orkan „Anatol“ über Sylt.
Sicher sind sich die beiden, dass das Eisbaden gut für ihre Gesundheit sei. Als sie vor zwölf Jahren damit begannen, plagten Karen Jensen Rückenschmerzen - ein Nerv war eingeklemmt, und ein Arzt empfahl ihr Rückenschwimmen. „Ich konnte gar nicht Rückenschwimmen, aber das kann man ja lernen.“ Das Resultat: Die Schmerzen verschwanden. „Die Kälte und die Massage der Wellen - das hilft. Mein Mann hatte ein schlimmes Knie - heute sind die Schmerzen weg.“ Tatsache ist: Eisbaden härtet ab. Eine Erkältung hatten die Jensens seit Jahren nicht.
Nicht von ungefähr gibt es in Deutschland geschätzte 2000 bis 3000 Eisbader. In größeren Gruppen treten sie auf Sylt vor allem zum Jahresende hin auf: Das Weihnachtsbaden am 26. Dezember hat hier eine lange Tradition. Etwa 100 Unerschrockene stürzen sich alljährlich am Strand von Westerland in die Nordsee - einige im Adamskostüm, andere mit Wikingerhelm oder Weihnachtsmannmütze. Am 1. Januar beim Neujahrsbaden in Wenningstedt gibt’s dann eine zweite Chance für alle, die im Dezember einen Rückzieher gemacht haben. Landratten und Warmduscher sehen dabei lediglich vom Strand aus zu - mit einem heißen Punsch oder „Toter Tante“.
Auch die Jensens treffen bei ihrem allmorgendlichen Badevergnügen regelmäßig Passanten. Deren Reaktion: Einige staunen, andere schütteln mit dem Kopf - doch einige wenige lassen sich tatsächlich überreden, selbst ins Wasser zu steigen. Und sind anschließend wie neu geboren. Karen Jensen: „Wenn ich morgens aufstehe, fühle ich mich manchmal wie 81. Aber wenn ich aus dem Wasser komme, fühle ich mich wie 18. Da könnte ich glatt Ballett tanzen.“